In ihrem Briefwechsel gibt Bettine von Arnim
einen neuen Entwurf des schreibenden
Ich, literaturtheoretisch eine neue Begründung von Autorschaft. Sie tut dies –
folgt man Bernhard Greiner[1]
– indem sie das Material um zwei Brennpunkte organisiert, zwei Mythen, den Echo-Mythos und den biblischen Ruth-Mythos und aus dem Zusammenführen
der beiden Mythen einen Durchbruch entwirft zu einem ‚höheren Ich des Geistes’.
Echo ist in der griechischen Mythologie
eine Bergnymphe. Der oberste Gott Zeus überredet sie, seine Gemahlin Hera mit
unablässigem Reden abzulenken, damit sie ihm nicht nachspionieren kann. Aus Wut
bestraft Hera Echo mit dem Verlust ihrer Sprache und läßt ihr nur die Fähigkeit,
die letzte Silbe eines jeden Wortes, das sie hört, zu wiederholen. Eine
unerwiederte Liebe zu dem schönen Narziß, der nur sein eigenes Spiegelbild
lieben kann, läßt Echo vor Gram vergehen.
Auch das schreibende Ich Bettine
bedient sich oft der Spiegelmetaphorik. So liegt der Gedanke an Narziß nahe, der
dann auch die Einschätzung des Briefwechsels nachhaltig bestimmt hat.
Die Schreibende ist aber auch Echo, die vom kleinsten Liebesbeweis des Geliebten
erglüht. „Im Spiegel gegenüber sah ich den Baum noch einmal und wie die
Sonnenstrahlen durch sein Laub brachen; da sah ich sie drüben sitzen, die
Braune, Vermessene, an den größten Dichter, an den Erhabenen über alle zu
schreiben.“ Wie die mythische Echo nicht stirbt sondern sich verwandelt in die
Erscheinungsformen von Stimme und Fels, so spaltet der Briefwechsel die
Goethe-Figur in Stimme und Stein in Form seines Denkmals, entsprechend dem
Untertitel des Buches.
Durch seine Bitte, für seine
Autobiographie das beizusteuern, was seine Mutter ihr über seine Kindheit
berichtet hat- eine Bitte, der sie im Briefwechsel entspricht,- macht Goethe
Bettine zur Mitautorin. Gleichzeitig aber ist die erste Stimme des Autors für
diese Erzählung nicht festzustellen. Wer spricht? Die Mutter, die ihr Erzählen
an den Wünschen des Zuhörenden ausgerichtet haben könnte? Die Bettine der
berichteten Zeit? Bettine von Arnim als Autorin des Briefwechsels? Jedes Erzählen ist hier
Echo eines anderen Erzählens, Autorschaft ist entworfen als Echo-Rede ohne
ersten Sprecher. So muß es auch in der antiken Welt Zeugen für Narziß`
selbst-zerstörerische Liebe zu seinem Spiegelbild gegeben haben. Aber an der
verhängnisvollen Quelle ist außer Narziß nur Echo anwesend und Echo kann nur
sagen, was schon gesagt worden ist. Wer spricht? Der Erzähler kann immer nur
Echo eines Echos sein, ein erster Sprecher ist nicht vorhanden. Das Ich als
erste erzählende Instanz wird fallen-gelassen. Was bleibt, ist die Orientierung
auf ein höheres Dasein, ein ideales „Ich“, das sich über alle Einschränkungen
erhebt.
Der Verzicht auf die Ich-Begründung
bedingt ein anderes Konzept, das Konzept der Teilhabe, des sich Einschreibens in
eine andere Genealogie. Dies leistet das zweite Modell von Autorschaft, das der
Briefwechsel entwirft, der Ruth-Mythos.
Ruth hätte nach dem Tod ihres Mannes zu
ihrer Familie zurückgehen müssen, statt dessen besteht sie darauf, mit Naomi,
ihrer Schwiegermutter nach Juda zu gehen. „Wo du hingehst, da will auch ich
hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch.“( Ruth 1, 16). Sie liest als
rechtlose Frau Ähren auf dem Feld des Boa, der sie unter seinen Schutz stellt.
Er ist ihr Löser. In der Nacht begibt sich Ruth zum Lager des Boa und legt sich
zu seinen Füßen nieder. Boa erkennt diese Geste als Liebesbeweis und löst sie am
nächsten Tag aus. Er heiratet sie. Ihr Sohn wird der Vater des Stammes David. So
schreibt sich Ruth über die erwählte Mutter in die Genealogie der Könige und
biblischen Erlöser David und Salomon ein.
Alle Positionen und analogen
Verknüpfungen finden sich im Briefwechsel wieder. Den Platz Naomis
nimmt Goethes Mutter ein, Bettine, als „Witwe“ der (durch Selbstmord)
verschiedenen Günderrode bittet die Frau Rat um Gemeinschaft und schreibt sich
über ihre schriftstellerische Tätigkeit in eine fremde Genealogie ein. Goethes
Mutter ihrerseits erbittet von Bettine die Anrede „Mutter“ und weist auf ihren
Sohn als Bettines Freund und Bruder. So rückt sie diesen, wie Naomi es mit Boa
tat, in die Position des Lösers. Wie Ruth die Ähren auf dem Felde liest, erfolgt
bei Bettine das Lesen zwischen den Texten Goethes. Immer wieder beschreibt sich
Bettine in einer Stellung zu Füßen Goethes. Wie Boa wertet Goethe diese Stellung
als Liebesbeweis, wie Boa spricht er Bettine an als sein „Kind“. Wie für Ruth
erfolgt für Bettine durch die Verbindung mit dem Löser die Einschreibung in
dessen Genealogie, im Fall Goethes in die der Autoren. Daraus entsteht auch ein
König, nämlich das Königsbuch, gewidmet König Friedrich Wilhelm IV. Im Gegensatz
zum Ruth-Mythos holt Bettine von Arnim die Zukunftsweisung in die diskursive
Gegenwart ihres Textes. So wird der Text Verheißung und Erfüllung zugleich, und
schafft damit den Durchbruch zu einem freieren, geistigen Ich.
Aus dieser Konstellation erklärt sich
der ekstatische Ton des Textes, der ohne diese Legitimation schwer zu ertragen
wäre: Bettine von Arnim erfindet eine neue Art Prosa im Zusammenführen des
klassischen Echo- und des biblischen Ruth-Mythos. Dieser hohe Ton hat trotz des
überragenden Erfolgs des Werkes bei den Lesern, nicht Schule gemacht.
[1] Bernhard Greiner: Echo-Rede und ‚Lesen’ Ruths. Die Begründung von Autorschaft in Bettina von Arnims Roman ‚Goethes Briefwechsel mit einem Kinde’. In: Dt. Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 70, 1996, Heft 1. S. 48-66.